Wie transnationales Erinnern gehen kann – eine Reportage

Ein Tag im September, ungemütlich, trostlos. Graue Wolken jagen über das deutsch-tschechische Grenzgebiet entlang des Oberpfälzer Waldes. Durch eine Fensterritze in der Bildungsabteilung der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg pfeift kalter Wind. Man kann sich gut vorstellen, wie ungemütlich es an diesem Ort wird, wenn der Winter anbricht. Nicht vorstellbar, geradezu unbegreiflich ist hingegen die Vorstellung, dass an diesem Ort in der Zeit von 1938 bis 1945 Tausende Menschen nicht nur ihre Individualität, ihre Würde verloren haben, sondern auch ihr Leben. Von 100.000 Inhaftierten des KZ Flossenbürg kamen nachweislich 30.000 Frauen und Männer ums Leben. Vernichtung durch Arbeit. Viele im ortseigenen Steinbruch, der für die SS aufgrund seiner Granitvorkommen von großer Bedeutung war. Damit sich die Geschichte nicht wiederholt, bearbeitet das Koordinierungszentrum Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch – Tandem in den Jahren 2017-2019 den Themenschwerpunkt „Transnationale Erinnerungsarbeit/politische Bildung“. Für solche Maßnahmen stehen jährlich 100.000 Euro zur Verfügung. Wie eine Maßnahme aussehen kann, zeigten die zwölf Teilnehmer/-innen am Tanz-Workshop „Formen finden – Geschichte erfahren – Erinnerung gestalten“ in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (September 2017), der von Tandem gefördert wurde.

Vom Narrativ des jeweiligen Nachbarlandes

„Ich bin neugierig, wie die Deutschen gedenken, sich erinnern“, antwortet Adéla aus Prag auf die Frage, warum sie sich für den Workshop angemeldet hat. Die 22-Jährige ist seit Anfang September 2017 EVS-Freiwillige beim Koordinierungszentrum Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch – Tandem, wo sie mit zwei weiteren Freiwilligen das Jugendprojekt „ahoj.info“ betreut. Im tschechischen Geschichtsunterricht spielt die Zeit von 1933 bis 1945 laut Adéla keine prioritäre Rolle, viele Tschechen verstehen sich als Opfer. Für Adéla ist es daher umso interessanter, die deutsche Perspektive kennenzulernen – was auch eines der Workshop-Ziele ist: Die Auseinandersetzung mit dem Narrativ des jeweiligen Nachbarlandes. Gleichzeitig fühlt die junge Tschechin eine gewisse Beklommenheit angesichts der bevorstehenden Auseinandersetzung mit den deutschen Seminarteilnehmer/-innen, die sie nicht näher definieren kann.

Es muss nicht, aber es kann was Neues entstehen

Beklommenheit empfindet auch Miloš aus Karlsbad. Er kann sich nicht vorstellen, wie man sich dem schwierigen Thema, sprich der NS-Zeit und ihren Gräueln, tänzerisch nähern kann. Noch dazu an einem Ort wie Flossenbürg, an dem Zehntausende Menschen ihr Leben verloren haben. Sophie aus München stimmt ihm zu, gleichzeitig lenkt sie ihren Blick nach vorne: „Jeder Teilnehmer bringt Impulse mit an diesen schrecklichen Ort. Mithilfe der Dynamik in der Gruppe kann am Schluss was Neues entstehen.“

Wie könnte das Neue aussehen? Es könnte die gemeinsame Auseinandersetzung von jungen Deutschen und Tschech/-innen in Hinblick auf das KZ Flossenbürg in den Jahren 1938 bis 1945 und dessen Bedeutung bis in die Gegenwart sein. Ebenso die Bereitschaft der Workshop-Teilnehmer/-innen, sich dem historischen Ort künstlerisch-kreativ zu nähern. „Oft wird über diese Zeit sehr abstrakt gesprochen. Über die künstlerische Ebene findet man einen anderen Zugang zum Thema“, erklärt Sarah Grandke, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Alan Brooks (www.alanbrooks.de), der die tänzerischen Workshops begleitet, stimmt ihr zu: Herz und Kopf gehören zusammen, durch den Körper können Emotionen ausgedrückt werden. Und egal ob Trauer, Wut, Verwirrung – jedes Gefühl hat seine Berechtigung.

Kunst transportiert Stimmungen, Gefühle

Ausgangspunkt des fünftägigen Workshops war Kunst als Überlebensmittel der Häftlinge im Lager. Anhand von Bildern und Zeichnungen ehemaliger Häftlinge des KZ Flossenbürg, Miloš Volf (1924-2012), Eliane Jeannin-Garreau (1911-1999) und Richard Grune (1903-1983), ging Dr. Christa Schikorra, Leiterin der Bildungsabteilung an der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, auf Kunst in Konzentrationslagern ein. Kunst war nicht nur Überlebensmittel für die Häftlinge, die gemalt haben. Sie sind auch Zeugnis der damaligen Zeit. Sie transportieren Stimmungen, Gefühle, sie machen das Leben im KZ vorstellbarer. In den Zeichnungen und Bildern wird die Verzweiflung und Erschöpfung der KZ-Häftlinge sichtbar. Gleichzeitig sind sie Beweise des Verbrechens, des Terrors, der Gewalt, des Todes, aber auch Zeugnisse der Selbstbehauptung – so als wollten die Häftlinge, die gemalt haben, sagen: Schau her, ich bin Mensch und keine Nummer.

„Was löst das bei euch aus, wenn ihr das anschaut?“ – Auf die Frage von Dr. Schikorra antwortet Sophie: „Es berührt und bewegt mich. Es ist erstaunlich, dass Räume gefunden wurden, um sich auszudrücken.“ Um den Ausdruck geht es auch bei den Workshop-Einheiten mit Alan Brooks. Alan, ein gebürtiger Engländer, ist einer der erfahrensten und renommiertesten Community Dance Worker in Deutschland. Er ermutigt die Teilnehmer/-innen, für sich eine neue Form der Kommunikation zu entdecken, er ermutigt sie, sich für neue und kreative Formen des Ausdrucks zu öffnen. „Haben wir das Recht, diesen Ort zu tanzen? Ich glaube nicht!“, sagt Alan Brooks. Man kann die Zeit von 1938 bis 1945 im KZ Flossenbürg nicht tanzen. Man kann sich der Geschichte aber respektvoll nähern. Seinen Gefühlen im Tanz Ausdruck verleihen und damit die eigene Sprachlosigkeit überwinden angesichts dessen, was vor über 70 Jahren in Flossenbürg geschehen ist. Alan Brooks ist der Mann mit den Fragen, die Antworten kommen von den Teilnehmer/-innen, die sich nach dem Einführungsworkshop zweieinhalb Tage lang dem Leben in KZ Flossenbürg künstlerisch-kreativ angenähert haben: „Mich interessiert, wer du bist, was du fühlst, welche Verbindung du zu den Männern und Frauen hast, die hier inhaftiert waren.“

„Es war definitiv eine Grenzerfahrung“

Die folgenden zweieinhalb Tage beschreibt Adéla folgendermaßen: „Eine extrem spannende Herausforderung.“ Wie stellt man Sprachlosigkeit dar, Unmenschlichkeit, eine Welt, in der die Regeln jeden Tag neu definiert werden, in der man keine Gewissheit hat, den Tag zu überleben, Machtmissbrauch? Die Teilnehmer/-innen wurden von Alan in drei Gruppen aufgeteilt. Werke von den ehemaligen KZ-Häftlingen Eliane Jeannin-Garreau und Richard Grune waren den Teilnehmer/-innen bereits bekannt. Nun sollte sich jede Gruppe mit dem Bild auseinandersetzen, das sie am meisten bewegte. Adélas Gruppe entschied sich für ein

Bild von Richard Grune. Die Lithografie zeigt KZ-Häftlinge im Flossenbürger Steinbruch. Es ist von einer solchen Intensität, dass Adéla, Miloš, Rachel und Anna, alles Tschech/-innen, ihre Gefühle, die sie mit der Darstellung assoziierten, tänzerisch aufarbeiten wollen. „Es war definitv eine Grenzerfahrung“, resümiert Adéla. Mehr möchte sie von dem, was sie innerhalb der Gruppe erfahren hat, nicht preisgeben. Es war eine höchst individuelle Auseinandersetzung mit den Begriffen Unmenschlichkeit, Zerstörung, Angst, die in dem geschützten Rahmen, den der Workshop bot, bleiben soll.
Welche Schlüsse ziehen wir aus der Geschichte? Wie können wir vermeiden, dass sich die Geschichte wiederholt vor dem Hintergrund aktueller politischer Wirren? Die Antwort von Miloš ist einfach und schwer zugleich: „Man muss sich jeden Tag aufs Neue für die Demokratie einsetzen!“

Von Petula Hermansky